Digitale Transformation gestalten – Interview mit Dr. Gerald Fricke

Dr. Gerald Fricke, Politikwissenschaftler an der TU Braunschweig, Institut für Wirtschaftsinformatik, habe ich letzten Sommer auf dem Innovationskongress von Zukunftsforscher Jánszky kennen und schätzen gelernt. Gewassen mit allen digitalen Wassern, ist es stets spannend, mit Gerald mal tiefer in Zukunftsthemen einzusteigen und über den Weg von einer Massengesellschaft hin zu einer „kooperativen Webgesellschaft“, mit bedeutenden Auswirkungen auf unser Leben und Arbeiten, zu diskutieren. Auf geht’s:

Digitale Transformation gestalten – Interview mit Dr. Gerald Fricke

saatkorn: Gerald, gibt es für Unternehmen nicht Wichtigeres als die Digitale Transformation?

Dr. Gerald Fricke.
Dr. Gerald Fricke.

Wenn wir uns tatsächlich eine Perspektive auf die Welt eröffnen, die der Gesellschaft kulturell und technisch angemessen sind, dann stellt sich die Frage nicht, ob wir das Internet und die Digitalisierung wollen oder nicht oder wie wir das Social Web persönlich finden, sondern nur die Frage, wie wir diese Transformation beherzt angehen können.

Das Social Web ist für die meisten Menschen eben kein „neues Medium“ mehr oder bloßer Vertriebskanal, sondern neben Arbeit und Freizeit zu dem „Dritten Ort“ geworden, der gemeinsames Handeln ermöglicht und Anerkennung, Wertschätzung und Sinnstiftung verspricht. Ich meine, dass unser Kommunikationsmanagement grundlegend herausgefordert ist, sowohl auf der individuellen Ebene als auch aus Unternehmenssicht. Wir bewegen uns allgemein vom Überzeugen und Überreden zum Vernetzen und Kooperieren. Für die Unternehmen gilt: Die Marke, das Versprechen der Produkte und Dienstleistungen entstehen in den Köpfen und Herzen der Kunden. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Web, als Lebensraum und Ort der Zusammenarbeit. Insofern gehören Digitalisierung und unternehmerischer Erfolg für mich untrennbar zusammen.

saatkorn.: „Vernetzen und kooperieren“ ist für viele traditionell geführte Unternehmen sicherlich eine kulturelle Herausforderung. Erleben wir nicht in erster Linie gerade eine Vertrauenskrise?
Unternehmen können das Social Web nicht kontrollieren. Aber sie können versuchen, neues Vertrauen aufzubauen. Vertrauen in die Web-Kompetenz ihrer Mitarbeiter und Botschafter, zum Beispiel. Über soziale Nähe, Aufmerksamkeit und Respekt.
Das Web als Assoziationsraum für gemeinsames Handeln ist für immer mehr Menschen eben auch genau der Ort, an dem die knappe Ressource „Vertrauen“ hergestellt wird – oder auch verspielt werden kann. Nach Pierre Bourdieu meint „Sozialkapital“ die Gesamtheit der Ressourcen, die mit der Teilhabe am Netz sozialer Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sein können. Das ist für Unternehmen von entscheidender Bedeutung: Den kulturellen und gesellschaftlichen Wandel annehmen und eine neue Sichtweise auf das Web zu gewinnen – nicht als PR- oder Marketinginstrument, um irgendetwas zu behaupten, sondern tatsächlich als einen Ort der Zusammenarbeit. Das Web ist das, was wir daraus machen. Je kooperativer wir uns verhalten, umso mehr Nutzen wird es uns bringen.

saatkorn.: Was meinst Du genau mit der „Großen Transformation zur Webgesellschaft“? Was transformiert sich da?
Der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi hat die „Großen Transformation“ zu den Marktgesellschaften im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert untersucht. Ich sehe heute einen Übergang von ähnlicher Bedeutung: Die „Große Transformation“ einer Gesellschaft, die auf die Masse setzt, zu einer kooperativen und vernetzten Gesellschaft, in der das Web zum Leitmedium wird.

Das bedeutet, zusammengefasst: Die großen Einheiten lösen sich auf, die Welt wird vielfältiger. Die Bedeutung von öffentlich und privat ändert sich, neue Konventionen entstehen. Wir erleben einen Strukturwandel der Öffentlichkeit – von Massenmedien zu fragmentierten Teil-Öffentlichkeiten. Immer wichtiger werden Verhandlungssysteme und neue Formen der Beteiligung, wir bewegen uns von Repräsentation und Entscheidung zu Aushandlung und direkter Demokratie. Die Bindungskräfte großer Kollektivakteuren werden schwächer, die Bedeutung der Individuen in vielfältigen Rollen und neuen Akteurs-Netzwerk-Konstellationen wächst. Auf der einen Seite kommt die Welt zusammen, auf der anderen Seite nehmen die Unterschiede zu. Mit dieser Gleichzeitigkeit von Vereinheitlichung und Fragmentierung müssen wir umgehen.

saatkorn.: Aber warum sagst Du „Webgesellschaft“ und nicht „Netzgemeinde“?
Ich sehe in dem Web nicht eine abgeschlossene „Gemeinde“, wo merkwürdige Menschen mit komischen Bärten Dinge tun, die wir nicht verstehen, sondern einen Assoziationsraum für Individuen, die durch kommunikatives Handeln im Internet verbunden sind und eine offene Gesellschaft bilden.

Die Webgesellschaft fängt nicht mit dem Social Web oder dem ersten Browser an! Auf empirisch- analytischer Ebene beobachten viele Sozialwissenschaftler seit den frühen 1970er Jahren einen fundamentalen Transformationsprozess der Gesellschaft, der sich an vielen politischen, soziologischen, kulturellen und technologischen Parametern ablesen lässt.

Normativ frage ich wie die nächste Gesellschaft aussehen sollte: Kooperativer, empathischer, transparenter, gerechter. Es geht mir soziologisch um neue Konventionen und neue Akteurs- Netzwerke, um Kontextualisierungs- und Rollenkompetenzen der Individuen. Und darum, erste Umrisse eines neuen Gesellschaftsvertrags (Rousseau) zu skizzieren.

Vor diesem Hintergrund untersuche ich als Wirtschaftsinformatiker in der Webgesellschaft neue situierte und kontextorientierte elektronische Dienstleistungen, die für ein neues ökonomisches Modell von Produktion und Konsum stehen: Für einen „Plattform-Kapitalismus“.

saatkorn.: Dieses neue Modell bedeutet also, dass wir als Unternehmen das „Web 2.0“ nicht auf einen „Kanal“ reduzieren sollten, den wir mit unserem Marketing bespielen? Sondern, dass wir das Web als Bühne oder Plattform sehen?
Ja, genau! Mir ist in der Praxis sehr deutlich geworden, dass es in erster Linie nicht um einzelne „Kommunikationskanäle“ (von Facebook bis Twitter) geht, sondern um diesen beschriebenen Veränderungsprozess. Genauer gesagt geht es für die Unternehmen um die Gestaltung der gesellschaftlichen Transformation als Querschnittsaufgabe des Managements.

Als Unternehmen sind wir natürlich Bestandteil der Gesellschaftswelt, ob wir es wollen oder nicht. Fach- und Führungskräfte in Unternehmen müssen zunehmend ein Mindestmaß an digitalem Verständnis und eine gewisse grundlegende Alltagskompetenz im Web aufweisen. Die Sätze „Dieses Dings 2.0 macht bei uns die IT“ oder „Dafür ist bei uns die Unternehmenskommunikation zuständig“ sind nicht mehr zeitgemäß, vorsichtig formuliert. An uns als das gesellschaftliche Fachpersonal im weitesten Sinne werden auch die entsprechenden Ansprüche gestellt. Immer mehr Kunden und Nutzer erwarten von uns, dass wir in ihren Assoziationsräumen auch ansprechbar sind, dass wir ihnen eine Bühne bieten und individuell passende Plattformen.

saatkorn.: Was muss sich dafür institutionell in den Unternehmen ändern – und was bedeutet das für das Personalmarketing?
Um diese Digitale Transformation wirksam und nachhaltig anzugehen, richten immer mehr Unternehmen weltweit die Position eines Chief Digital Officers (CDO) ein, ergänzend zum CTO oder CEO. Als Erfolgsfaktoren dafür gelten die Präsenz im Vorstand und die Etablierung der Digitalisierung als übergreifendes Querschnittsthema. Das finde ich richtig und notwendig!

Als Politikwissenschaftler sage ich: Die Zentrale gibt eine Richtung vor, formuliert Ziele und organisiert eine dezentrale Kontextsteuerung. Dabei sollte es sich um qualitative Ziele handeln, es muss mehr sein als „Wir wollen im Umsatz die Nummer Eins werden“. Die entscheidende Frage ist die nach dem Warum.
Derzeit verfügt erst etwa ein Drittel der deutschen Unternehmen über eine halbwegs qualifizierte Digitalisierungs-Strategie. Unternehmen sage ich: Wenn wir dieses Thema jetzt beherzt angehen, haben wir die große Chance, die Digitale Transformation tatsächlich in unserem Sinne zu gestalten – und damit zum Beispiel ein Referenz-Unternehmen zu entwickeln, das vorbildhaft für gute Arbeit , gutes Leben und gelungene Alltagskompetenz im Web steht. Das wäre meine Antwort auf das Warum!

saatkorn.: Gerald, danke für das Interview – und weiterhin viel Spaß und Erfolg bei Deinen zahlreichen Aktivitäten!

Zur Person: Dr. Gerald Fricke, Politikwissenschaftler am Institut für Wirtschaftsinformatik, TU Braunschweig, forscht und lehrt zur kooperativen Webgesellschaft und berät zur Digitalen Transformation. Er war Internet-Konzeptioner bei der Multimedia-Agentur Elephant Seven in Hamburg (u. a. für Mercedes, Telekom, Montblanc), Kommunikationsberater u. a. für die Autostadt, hat über internationale Klimapolitik promoviert, mehrere Bücher geschrieben, ist Ensemble-Mitglied der Braunschweiger Lesebühne „Blau-Gelb-Sucht“, hat auf der CeBIT über „Big Gesellschaftstheorie“ gesprochen und postet jeden Tag sein Mittagessensfoto, irgendwo im Social Web.

Blog: http://geraldfricke.tumblr.com

Twitter: https://twitter.com/Ballkultur

Instagram: https://instagram.com/ballkultur/

Gero Hesse

Ich bin Gero Hesse, Macher, Berater und Blogger in den Themenfeldern Employer Branding, Personalmarketing, Recruiting, Social Media und New Work. Mehr Infos über Gero Hesse.

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