Vision versus Realität: Was Josh Bersins KI-Thesen für den deutschen Arbeitsmarkt bedeuten
KI und der Arbeitsmarkt ist heute Thema in der ersten neuen SAATKORN Kolumne unter dem Titel #foodforthought. Hier werde ich zukünftig meine Gedanken zu Themen, Artikeln, Podcasts und Events rund um die SAATKORN Themen teilen. Und zwar als Blog (hier) und Mini-Podcast-Kolumne:
Viel Spaß damit!
Manchmal genügt ein Podcast, um mich komplett aus dem Häuschen zu bringen. So einer ist kürzlich von Josh Bersin erschienen: „AI is messing with the job market In ways we didn’t anticipate“. Definitiv hörenswert! – Bersin befasst sich darin mit KI und den Auswirkungen auf den US-Arbeitsmarkt. Sinngemäß behauptet Bersin:
Wir stehen nicht vor einer Zukunft voller neuer Jobs, sondern vor einer Zukunft, in der Jobs rasant transformieren, ohne dass netto viel Neues entsteht. Keine großen Einstellungswellen mit massivem Jobwachstum, sondern eine drastische Veränderung innerhalb bestehender Jobs. Dazu kommt sein Narrativ von den „Superworkern“: Einzelne Personen, die Dank KI deutlich mehr Wirkung entfalten. Und schließlich: Karrieren sollen fluider werden, Skillsets statt Jobtitel rücken in den Vordergrund, interne Mobilität wird zum Normalzustand.
Das klingt natürlich nach Silicon Valley, nach Speed, nach Disruption. Kein Wunder, Josh Bersin ist Amerikaner (und mit seinem eigenen KI-HR-Tool Galileo ja auch nicht ganz uneigennützig unterwegs). Beim angeregten Zuhören beschlich mich dann die Frage, was von Bersins Thesen auf den deutschen Arbeitsmarkt zutrifft. Hier ein paar Gedanken:
Deutschland-Check: wo Bersin recht hat – und wo wir anders ticken
Wer auf die aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit blickt, nickt bei Bersins erstem Punkt: Kein spürbares Jobwachstum. Die sehnlichst erwartete Herbstbelebung ist bislang maximal ein laues Lüftchen und nicht der ersehnte Sturm. Natürlich spielen Konjunktursorgen und geopolitische Unsicherheiten eine Rolle, aber der Effekt ist derselbe: Netto entstehen gerade nicht mehr Jobs, sondern die Vorhandenen verändern sich.
Und diese Veränderung innerhalb der Arbeit ist messbar. Das IAB zeigt seit Jahren, dass Technologien nicht ganze Berufe verschwinden lassen, sondern Tätigkeiten verschieben. Besonders interessant: Der größte Veränderungsdruck liegt nicht – wie früher immer im Kontext KI postuliert – im Blue-Collar-Segment, sondern bei hochqualifizierten Wissensarbeiten. Analyse, Text, Planung – alles, was sich durch generative KI beschleunigen lässt, steht auf der Kippe. Berufe verschwinden nicht – aber sie mutieren. Bersins „Job-Reinvention“? Passt wie die Faust aufs Auge.
Etwas diffuser wird es beim Thema Superworker. Dass KI Einzelne produktiver macht, ist unbestritten. Doch dass wir schon bald überall kleine, KI-gestützte Elite-Teams sehen, ist in Deutschland noch eher Vision als Alltag. Unsere Unternehmen testen KI-Assistenz, aber oft bleibt es beim Proof of Concept. Produktivitätssprünge und neue Rollenbilder sind noch nicht flächendeckend angekommen – eher ein Trend am Horizont als gelebte Realität. Das erlebe ich in meiner „LinkedIn-KI-Bubble“ zwar täglich, aber die Realität in deutschen Unternehmen ist vielfach ganz anders.
Ähnlich bei Bersins Prognose von fluideren Karrieren. Seine These: Skills werden wichtiger als Titel, Menschen wechseln innerhalb und außerhalb von Organisationen häufiger die Rolle. Das klingt gut – und wäre angesichts der technologischen Transformation wünschenswert. Nur: Die Realität zeigt bislang Zurückhaltung. Die Wechselbereitschaft war zuletzt historisch niedrig, Unsicherheit dominiert. Erst langsam dreht sich der Wind; Weiterbildungsprogramme, Talentmarktplätze und interne Mobility-Initiativen sollen den Weg ebnen. Aber wir sind hier in Deutschland gerade mal auf der Landstraße unterwegs und nicht schon auf der Autobahn.
Und dann ist da die deutsche Besonderheit: Tempo und System. Bersin spricht aus einer US-Perspektive, in der der Markt schnell und deutlich weniger reguliert funktioniert. Deutschland ist anders. Wir haben ein dichtes Netz aus Regulierung, Sozialpartnerschaft und Bürokratie. Das ist nicht schlecht – es macht den Wandel kalkulierbarer, aber eben auch erheblich langsamer. KI kommt auch bei uns, aber nicht mit Speedy Gonzales Tempo, sondern eher mit Sicherheitsgurt und TÜV-Plakette.
Was das für HR und Recruiting bedeutet
Für HR-Profis liegt darin eine doppelte Botschaft: Einerseits ist Bersins Grundthese hoch relevant – Jobwachstum wird (leider!) nicht unser primäres Problem sein, Jobtransformation aber schon. Rollen müssen neu geschnitten werden, ohne dass dafür gleich Menschen ausgetauscht werden. Es geht um kluges Umschichten von Tätigkeiten und Skills.
Besonders wichtig: Upskilling dort, wo es weh tut – in der Wissensarbeit. Hochqualifizierte sind von KI besonders betroffen. Prompting, Prozessgestaltung, Datenkompetenz und Governance sind die neuen Pflichtfelder. Dazu muß man dann aber auch bereit sein: Upskilling wird da direkt greifbar – bei jedem und jeder Einzelnen.
Und: Bereitet euch auf interne Mobilität vor, statt auf spontane Marktbewegung zu hoffen. Wenn Fachkräfte nicht von selbst wechseln, müsst ihr Brücken bauen: Lernpfade, Karrierepfade, interne Marktplätze. Dann kann die fluide Karriere, von der Bersin spricht, in eurem Unternehmen Realität werden.
Analytik ist ein weiteres großes Thema. Wer vom „Superworker“ spricht, muss entsprechend messen können: Wie verändern sich Produktivität, Qualität, Kundenzufriedenheit? Solange das nicht sichtbar (und auf den „Superworker“ rückführbar ist, bleibt KI in dem Kontext ein Buzzword.
Mehr dazu
- IAB: IAB-Kurzbericht „Vor allem Hochqualifizierte bekommen die Digitalisierung …“ (2024)
- IAB: IAB Stellenerhebung Q1 2025: offene Stellen rückläufig
- OECD: Review Deutschland – KI, Politik & Innovation
- Josh Bersin: YouTube-Video Josh Bersin Podcast